23.02.2015

Miss Marple Folge 74b

Madame Marple
Es war ein launiger Herbstmorgen, graue Wolken hingen am ebenso grauen Himmel. "Welch originelle Farbkombination", dachte sich Miss Marple, als sie mit ihrem altersschwachen Ellebogen die Gartentür des Hauses aufstieß. Ihr kleiner Dreibeindackel musste recht dringend urinieren und hatte sich aus lauter Verzweiflung gerade eben in ihrer Wade verbissen. Denn sie war trotz ihres Alters noch eine vielbeschäftigte Frau, was oft dazu führte, dass sie ihren kleinen, putzigen Mitbewohner schon mal mehrere Tage lang in der Besenkammer eingesperrt ließ.

Doch nun stand sie da, halb auf der Türschwelle, die faltige Haut dem kärglich bewachsenen Garten entgegengestreckt - was dem Befinden der Pflanzen nicht gerade zuträglich war. Schon oftmals hatte sie des Morgens in ihren verrosteten Briefkasten geschaut um sich anschließend durch einen Flut von Briefen ihrer, meist senilen, Verehrer zu kämpfen. Angesichts der schieren Menge von Lettern konnte bei der fehlsichtigen Madame nämlich wirklich keine Rede mehr von Lesen sein. Eher schon war es ein auf und Ab, ein Wogen von Umschlägen und billigem Printpapier, wie es in Altenheimen gewöhnlich den infantileren Insassen, inklusive einem Set aus bunten Wachsmalstiften, zur Verfügung gestellt wurde.

Alle paar Wochen war es dann schließlich wieder soweit: Unter all dieser Post befand sich dann auch ein kleiner, unauffälliger Umschlag von hellgrauer Erscheinung. Miss Marple, zwar vom Alter gezeichnet, jedoch immer noch agil, hatte von ihrer damaligen Spitzfindigkeit anscheinend nichts eingebüßt; Denn mit wenigen Handgriffen war sie imstande eben jenen Umschlag mit unglaublicher Sicherheit behende aus dem Kasten zu ziehen, selbst wenn er verborgen hinter all den andren in der letzten Ecke des Behälters schlummerte. Nicht umsonst war sie jahrelang Mitglied in mehreren Vereinen, wie unter anderem dem Oklahoma Fecht Club gewesen, so dass es ihr ein leichtes gewesen wäre, im Falle einer Hungersnot, die Familie von nebenan zu Schaschlik zu verarbeiten. Zumindest ihr weiteres Überleben wäre somit gesichert - was für sie, verständlicher Weise, an erster Stelle überhaupt stand. Sicherlich würden auch ihre Nachbarn die überaus nervigen Kinder nicht vermissen. Und sollten sie erst einmal aufgespießt auf dem Grill garen, dann könnte sie vielleicht sogar ein kleines, flottes Chachacha Tänzchen um die Feuerstelle wagen, wer wusste das schon genau...

Jedoch war nicht alles so erfreulich wie diese Aussichten, denn die kleinen grauen Umschläge bereiteten ihr immer noch großes, ja wenn nicht größtes Unbehagen. Schon wenn sie den massiven Brieföffner aus Kristall von der Vitrine nahm, überkam sie ein eisiger Schauer, der sich wie ein schmatzender Krankheitserreger vom Nacken herab durch die Falten ihrer Rückenhaut fraß. Wenn sich ihr behaarter Körper zu einer verkrampften Masse Fleisch und Knorpel zusammenzog, dann wusste sie: Es war wiedermal Post von Refizuhl.
Marktleiter Refizuhl, um genau zu sein. Dies war wohl die einzige Person, vor der selbst die beschlagene Miss Marple Respekt hatte - und davon eine ganze Menge. Obwohl sich ihr Respekt in den letzten Tagen eher in blanke Angst gewandelt hatte, da sie mit ihrer Lieferung von Gartenkräutern im Rückstand war und der letzte Brief Refizuhls nicht gerade in freundlichen Worten geschrieben worden war. Sie wußte genau, daß sie ihn auf keinen Fall enttäuschen durfte, auch um ihrer selbst willen. Denn ihr war schon von Anfang an klar gewesen, daß es nicht lohnte, sich mit diesem Herrn anzulegen. Vielleicht hatte sie auch sich selbst überschätzt, als sie den Vertrag über eine monatliche Kräuterlieferung unterschrieb, zumindest tauchten schon jetzt die ersten Probleme auf, welche sie nicht zu bewältigen im Stande war. Die Kräuter wollten einfach nicht mehr so gut und schnell wachsen, wie es anfangs der Fall gewesen war, obwohl sie sich äußerste Mühe gab und alle erdenklichen Methoden (z.B. Eigenkot-Therapie) ausprobierte, jedoch leider ohne den benötigen Erfolg.

Tief in solch depressive Gedanken versunken, stand Miss Emilia Marple auf der schäbigen Veranda ihres bescheidenden Anwesens und nahm beiläufig zur Kenntnis, dass ihre Windel mal wieder undicht zu sein schien. Ihrem kleiner Köter blieb dies nicht verborgen und so begann er hektisch den Urin von ihren Beinen zu lecken. Er hatte ja sonst nichts, außer vielleicht der Walmart Plastiktüte, auf der sich manchmal an regnerischen Tagen etwas Wasser sammelte - welch armseliges Dasein dies doch sein musste.

"Scheiß Arschloch Hund!" Zischte Miss Marple, die aufgrund der Hundezunge aus ihrem Tranceartigen Zustand erwacht war und nun den kleinen Fifi mit ihren spitzen 2cm Absätzen in die Lenden stach. "Da, Da und Da du Fellbündel voller Scheißdreck!". Mit einem Ausdruck des Ärgers und entsprechenden Hautverwerfungen im Gesicht, stolzierte sie zurück in ihr Haus, vor dessen Veranda sich ein blutender Dreibeindackel in grausamen Qualen wand.
Ungefähr 27 Minuten später war die alte Dame in der Diele angekommen und nochmal 14 Minuten verstrichen, bevor sie ihren Ohrensessel mit Blümchenmuster erreichen konnte. Ganz außer Atem schaute sie auf ihre Schweizertaschenkuckucksuhr. "Oh, mein Gott - nur 41 Minuten, das ist ein neuer Rekord! Emilia, Emilia du besserst dich, herzlichen Glückwunsch!", prostete sie sich zu, ihren halbverwesten Körper im Spiegel voller Wollust betrachtend. Mehr Plötzlich als auf lange Sicht, fiel ihr Blick auf den, neben dem Spiegel angebrachten Kalender. Für den diesen Tag gab es nur einen Eintrag - dafür allerdings in knallrotem Holzkohlestift geschrieben: "14:30 Uhr - Refizuhl".
Als sie dies sah, fiel sie vor Schreck zur Seite, stieß sich die Halswirbel an einer Porzellanskulptur - und war auf der Stelle tot. Doch ihr Ableben sollte nicht umsonst gewesen sein, denn von diesem Tage an benutzte ein kleines Nagetier namens Ferdi ihren Kopf als Schlafplatz und Behausung. Es ließ alles nötige einbauen, was ein moderner Nager halt so braucht: Sanitäre Einrichtungen, eine Murmelbahn (Wobei Murmeln, die durch Schädel rollen, eine amüsante Geräuschkulisse abgeben) und natürlich eine Bonsaifarm. Man könnte fast meinen, daß jetzt mehr Leben in Miss Emilia Marple war, als je zuvor. Obwohl unter den Tierchen die Sage umging, daß schon das eine oder andere Wombat im Rektalbereich verschwunden sei, was natürlich nur reine Spekulation gewesen sein mag, aufgebracht durch Kleintiere und ihre Boulevard Blätter.
Aber was schreibe ich hier eigentlich. Natürlich war Miss Marple gar nicht tot, nein... Sie hatte nur geträumt! Und nun war sie aufgewacht und versuchte sich, am Boden liegend, zurechtzufinden. Behutsam führte sie die Hand zum Gesicht um ihre Hornbrille an die rechte Stelle zu rücken, als sie kurz inne hielt: Vor ihr stand Jemand. Und es war nicht nur Jemand, es war sogar ein ganz bestimmter Jemand. Und ich müsste lügen, wenn ich nicht noch hinzufügen würde: Es war ein so sehr bestimmter Jemand, man mag es kaum glauben wie genau sie das Gesicht dieses so sehr bestimmten Jemand vor Augen sehen konnte. Klar und deutlich sah sie durch ihre, erst kürzlich geschliffenen, Gläser und erkannte in diesem sehr bestimmten Jemand, den berüchtigten Leiter eines Supermarktes. Während sich ihre Augenbrauen erstaunt und verängstigt in die Höhe zogen und ihre Pampers-Senior nun auch nicht mehr nur mit Urin gefüllt war, starrte sie wie gebannt in das Gesicht der Person vor ihr und sah: Eine Statue. Eine Porzellanstatute. Und mit einem Mal überkam sie eine grenzenlose Erleichterung über ihren Irrtum und mit fröhlich verquetschtem Grinsen lag sie auf dem Boden ihres Wohnzimmers und fragte sich, ob man von einem Hund schwanger werden könnte.

Text von: JCB
Der Text ist ca. 10 Jahre alt.

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